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Inhaltsverzeichnis
Der Mittelwert der Erde-Mond-Entfernung
Übersicht
Für die „mittlere“ Entfernung zwischen den Mittelpunkten von Erde und Mond können unterschiedliche Werte angegeben werden, je nachdem, welche Definition für diesen Mittelwert gewählt wird.
Heutzutage ist die Bewegung des Mondes um die Erde sehr genau bekannt. Für jeden beliebigen Zeitpunkt – zumindest nicht zu weit in der Vergangenheit oder Zukunft – lässt sich die Position des Mondes (Länge und Breite bzw. Rektaszension und Deklination) auf den Bruchteil einer Bogensekunde genau berechnen, und die Entfernung zur Erde auf wenige Meter genau. Mithilfe der Lasertechnik lässt sich die Entfernung des Mondes heute auf etwa 1 Zentimeter (!) genau messen (Lunar Laser Ranging, LLR), doch die Berechnung bzw. Vorhersage der Entfernung ist ein weiteres Problem.
Man könnte meinen, auch die mittlere Entfernung zwischen Erde und Mond sei sehr genau bekannt. Und das ist sie auch. Fragt man jedoch einen Fachmann nach dem genauen Wert dieser mittleren Entfernung, wird er – vielleicht zu seinem Erstaunen – antworten: „Was genau meinen Sie mit der mittleren Entfernung?“ Allgemeine Anmerkung: Im Folgenden sprechen wir immer von der Entfernung zwischen den Mittelpunkten von Erde und Mond.
Mathematischer Einschub
Angenommen, der Wert der variablen Größe $A$ ist gegeben durch die Formel
$A = 60 + 2\cdot\cos t + 0.3\cdot\cos 2t\tag{1}\label{glg_1}$
d. h. die Konstante $60$ plus zwei periodische Terme. Was ist der Mittelwert von $A$? Hierfür könnten wir per Definition den konstanten Term der Formel, nämlich $60$, übernehmen. Die Extremwerte von $A$ sind $62.3$ (für $t = 0^\circ$) und $58.3$ (für $t = 180^\circ$). Definieren wir den Mittelwert von $A$ als arithmetisches Mittel dieser beiden Extreme, so erhalten wir $60.3$.
Nehmen wir nun jedoch an, dass wir die genaue Formel gar nicht kennen und nur den folgenden Ausdruck zur Berechnung des Inversen von $A$ haben:
$\begin{align} \frac{1}{A} &= 0.01667607303 \\ &-0.00055325576\cdot\cos t \\ &-0.00007420329\cdot\cos 2t \\ &+0.00000261746\cdot\cos 3t \tag{2}\label{glg_2}\\ &+0.00000014196\cdot\cos 4t \\ &-0.00000000885\cdot\cos 5t \\ &-0.00000000019\cdot\cos 6t \end{align}$
Dann erhält man $A$ durch die Berechnung des Kehrwerts des Ergebnisses. Durch die Berechnung für einen bestimmten Wert von $t$ kann der Leser überprüfen, ob die Formeln $\eqref{glg_1}$ und $\eqref{glg_2}$ äquivalent sind. Nehmen wir beispielsweise $t = 33^\circ$; beide Formeln sollten für $A$ dasselbe Ergebnis liefern.
In Formel $\eqref{glg_2}$ ist der konstante Term $0.01667607303$. Wir könnten als Mittelwert von $A$ den Kehrwert dieser Konstanten annehmen. Dieser Kehrwert ist
$\frac{1}{0.01667607303}=59.966156$, und nicht $60$.
Der Leser mag sich fragen, warum man eine Formel zur Berechnung des Kehrwerts von $A$ verwenden sollte. Sehen wir uns im weiteren an, was über die Mondparallaxe gesagt wird. Nun haben wir drei verschiedene Mittelwerte für $A$ gefunden, nämlich $60$, $60.3$ und $59.966156$. Welcher ist der beste Wert? Es ist nur eine Frage der Definition! Aber wie man sieht sollte man sich im Klaren sein, wovon man spricht…
Zurück zum Mond
[1] Brown'sche Mondtheorie
In der Mondtheorie, die E. W. Brown zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte und die später mehrfach korrigiert und verbessert wurde, wird die horizontale Äquatorialparallaxe $\pi$ des Mondes, ausgedrückt in Grad, durch eine lange Reihe periodischer Terme angegeben, von denen die wichtigsten sind
$\begin{align} \pi &= 0\overset{\circ}{.}9507245 \\ &+0\overset{\circ}{.}0518128\cdot\cos (m) \\ &+0\overset{\circ}{.}0095303\cdot\cos (2\cdot D - m)\tag{3}\label{glg_3} \\ &+0\overset{\circ}{.}0078422\cdot\cos (2\cdot D) \\ &+0\overset{\circ}{.}0008571\cdot\cos (2\cdot D + m) \\ &+\dots \end{align}$
wobei $m$ die mittlere Anomalie des Mondes und $D$ die mittlere Elongation des Mondes von der Sonne ist, was hier aber irrelevant ist. Brown lieferte also keine Formel zur direkten Berechnung der Erde-Mond-Distanz, sondern eine Formel für die Parallaxe $\pi$. Sobald $\pi$ bekannt ist, kann die Erde-Mond-Distanz berechnet werden aus
$\large\Delta=\frac{6378.14\;km}{\sin\pi}\tag{4}\label{glg_4}$
Dabei ist der Wert im Zähler der Äquatorradius der Erde. Die Entfernung ist also umgekehrt proportional zu $\sin x$ und, da $x$ ein kleiner Winkel ist, auch fast umgekehrt proportional zu $x$ selbst. (Wie man sieht kommt hier der Kehrwert der Entfernung ins Spiel!).
Die Sinusfunktion ist nahe dem Punkt $x = 0$ linear mit einer Steigung von $\approx 1$, daher gilt für kleine Winkel näherungsweise $\sin x\approx x$.
Der konstante Term in Formel $\eqref{glg_3}$ beträgt $0\overset{\circ}{.}9507245$. Wenn wir diesen Wert in Formel $\eqref{glg_4}$ einsetzen, erhalten wir für die „mittlere“ Entfernung zwischen Erde und Mond den Wert $384398.7\;km$.
[2] Chapront'sche Mondtheorie
Wie bereits im Artikel »Die momentane Mondumlaufbahn« erwähnt, entwickelten Chapront-Touzé und Chapront am Bureau des Longitudes in Paris eine völlig neue Theorie für die Bewegung des Mondes. Diese Theorie liefert zwar nicht die Parallaxe des Mondes, aber direkt seine Entfernung zur Erde in Kilometern. Auch hier handelt es sich um eine lange Reihe periodischer Terme, von denen die wichtigsten sind:
$\begin{align} \Delta &= 385000.5584 \\ &-20905.3550\cdot\cos (m) \\ &-3699.1109\cdot\cos (2\cdot D - m)\tag{5}\label{glg_5} \\ &-2955.9676\cdot\cos (2\cdot D) \\ &-569.9251\cdot\cos (2\cdot m) \\ &+246.1585\cdot\cos (2\cdot D - 2\cdot m) \\ &+\dots \end{align}$
Per Definition könnten wir den konstanten Term dieser Reihe als die mittlere Entfernung der Erde zum Mond annehmen. Auf den nächsten Kilometer gerundet ergibt dies $385001\;km$. Dieser Wert unterscheidet sich vom vorhergehenden, ebenso wie sich der mittlere Wert von $A$ basierend auf Reihe $\eqref{glg_2}$ etwas von dem basierend auf Reihe $\eqref{glg_1}$ unterscheidet.
[3] Extremwerte
Wie wir im Artikel »Die Extremwerte der Mondentfernung zur Erde« bereits gesehen haben, betragen die extremen Entfernungen zwischen Erde und Mond im Zeitraum von 1500 bis 2500 n. Chr. $356371\;km$ bzw. $406720 \;km$. Der Mittelwert liegt nahe dem arithmetischen Mittel dieser beiden Werte: $381546\;km$.
Es ist jedoch gefährlich, dies als Definition für die mittlere Entfernung zu betrachten. Im Fall der Kurve in Abb.1 ist offensichtlich, dass das arithmetische Mittel der Höhen der Extrempunkte $A$ und $B$ keine gute Wahl für die mittlere Höhe ist.
Abb. 1: Der Mittelwert einer Funktion ist nicht der Mittelwert der Extrema
[4] Große Halbachse der Umlaufbahn
Vielleicht wäre es besser, anstelle einer „mittleren Entfernung“ die große Halbachse $a$ der elliptischen Mondbahn zu betrachten. Obwohl die Mondbewegung durch die Anziehungskraft der Sonne stark gestört wird, können wir die mittlere Länge der siderischen Umdrehung $P$ des Mondes verwenden, die sehr genau bekannt ist. Die zu verwendende Formel lautet:
$\Large a^{\frac{3}{2}} = \frac{\mathrm{k}\cdot P\cdot\sqrt{\Sigma\;m}}{2\cdot\pi}\tag{6}\label{glg_6}$
$\mathrm{k}\dots$ Gauß'sche Gravitationskonstante, $\mathrm{k} = 0.01720209895 \frac{\sqrt{m^3}}{\sqrt{kg}\cdot s}$
$P\dots$ Siderische Umlaufperiode des Mondes, $P = 27.3216615$ Tage
$\Sigma\;m\dots$ Summe der Massen von Erde und Mond $= \frac{1}{328900.5}$, wenn man die Masse der Sonne als Einheit zugrunde legt
$\pi\dots$ die Konstante $3.141592653\dots$ (nicht die Parallaxe hier!)
Anschließend wird die große Halbachse $a$ der Mondbahn in astronomischen Einheiten $AU$ ausgedrückt. Wir erhalten $a = 0.0025718814\;AU$. Multipliziert man diesen Wert mit $149597870$ (der Entfernung Erde-Sonne), erhält man das gewünschte Ergebnis in Kilometern: $384748\;km$. Dieser Wert ist z.B. auch auf Seite XXXVIII des astronomischen Jahrbuches Connaissance des Temps von 1984 angegeben.
[5] Umlaufperiode
Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Die Gravitationsanziehung der Sonne stört nicht nur die Mondbewegung stark (daher die vielen periodischen Terme in den Ausdrücken für Länge, Breite und Entfernung des Mondes), sondern führt auch dazu, dass Formel $\eqref{glg_6}$ nicht „exakt“ ist. Aufgrund der Anwesenheit der Sonne ist die siderische Umlaufperiode $P$ des Mondes nicht gleich dem Wert, der sich aus dem Wert von $a$ mithilfe von Formel $\eqref{glg_6}$ ableiten ließe. Laut A. Danjon (Astronomic Generale, Paris, S. 275 der Ausgabe von 1959) verhält es sich so, als würde die Anwesenheit der Sonne die Erde-Mond-Anziehung um den Faktor $F = 1.002723$ verringern.
Die wahre (mittlere) große Halbachse der Mondbahn lässt sich dann mithilfe von Formel $\eqref{glg_6}$ unter der Bedingung finden, dass $\Sigma\;m$ durch die oben genannte Größe $F$ geteilt wird. Man erhält dann $a = 384399\;km$. Dies ist (ganz zufällig?) genau der Wert, den wir zuvor auf der Grundlage des konstanten Terms im Ausdruck für die Mondparallaxe gefunden haben!
[6] Zeitlicher Mittelwert
Man kann schließlich auch auch den Mittelwert der zeitlichen Entfernung betrachten. Dieser ist nicht dasselbe wie die große Halbachse der Umlaufbahn. Die große Halbachse der elliptischen Umlaufbahn der Erde um die Sonne beträgt $a = 149597870\;km$. Sehr oft, vor allem in populären Büchern, wird dieser Wert als „mittlere Entfernung der Erde zur Sonne“ bezeichnet. $a$ ist jedoch nicht die durchschnittliche zeitliche Entfernung, wie ein Extremfall deutlich macht: der periodische Komet Halley. Bei diesem Kometen entspricht $a$ ungefähr 18 Astronomischen Einheiten. Der Körper verweilt jedoch sehr lange in der Nähe seines fernen Aphels, etwa $35\;AU$ von der Sonne entfernt, wo er sich sehr langsam bewegt. Der Komet verweilt nur kurze Zeit in Sonnennähe, nahe dem Perihel seiner Umlaufbahn, da dort seine Geschwindigkeit sehr hoch ist. Es ist daher ganz offensichtlich, dass für diesen Kometen die mittlere Entfernung zur Sonne (der zeitliche Mittelwert) viel größer sein muss als $a = 18\;AU$.
Es lässt sich zeigen (siehe z.B. A. Danjon, Astronomie Générale, Seite 173 der Ausgabe von 1959), dass im Fall einer rein elliptischen Bewegung (= einer keplerschen Umlaufbahn) die mittlere Entfernung bezogen auf die Zeit zum Zentralkörper gleich
$\large a\cdot\left(1 + \frac{\epsilon^2}{2}\right)\tag{7}\label{glg_7}$
ist, wobei $\epsilon$ die Bahnexzentrizität ist. Für die Erdumlaufbahn ergibt sich mit dem Wert $\epsilon = 0.01670862$ (Epoche J2000.0) eine durchschnittliche Entfernung von $a = 149618752\;km$.
Führt man eine ähnliche Berechnung für den Mond durch, mit dem oben ermittelten Wert $a = 384399\;km$ und dem Mittelwert $\epsilon = 0.05490$ für die Exzentrizität, erhält man $\Delta = 384978\;km$.
Der Mond folgt jedoch keiner ungestörten elliptischen Bahn. Dies lässt sich aus Formel $\eqref{glg_5}$ ersehen. Dort stellen die Terme in $\cos m$ und $\cos 2m$ keine Störungen durch die Sonne dar; es handelt sich um die periodischen Terme, die sich aus der Beschreibung der elliptischen Umlaufbahn des Mondes ergeben: die sogenannte Mittelpunktsgleichung. Es gibt auch kleinere Terme in $3m, 4m,\dots$, aber alle anderen periodischen Terme sind echte Störungen aufgrund der Anziehungskraft der Sonne.
Aus diesem Grund wird die tatsächliche durchschnittliche Zeitdistanz etwas von dem gerade ermittelten Wert von $384978\;km$ abweichen. Diese durchschnittliche Zeitdistanz lässt sich leicht ermitteln: Sie ist der konstante Term in Ausdruck (5), gerundet auf die nächste ganze Zahl ergibt dies $385001\;km$. Um herauszufinden, ob es sich tatsächlich um diesen Wert handelt, könnten wir uns vorstellen, den Mittelwert jedes Terms über einen sehr langen Zeitraum zu bilden. Dann ist der (zeitliche) Mittelwert jedes Kosinus null (das Argument jedes Kosinus ist eine lineare Funktion der Zeit). In einem solchen Fall bleibt im Durchschnitt nur der allererste, konstante Term übrig.
Aber wie man sieht ist das alles nicht so einfach. Es ist eben nur eine Frage der Definition…